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Eine Rede abzulesen ist wie am Telefon zu küssen.
Es fehlt etwas!

Wer sich selbst sucht, findet nichts

by Jörg Heidig
 

Selbstsuche ist Trendsport, und die Floskel „bei sich selbst sein“ ist zur handlungsleitenden Maxime vieler Menschen geworden. Ich habe mir lange die Frage gestellt, warum die Selbstsuche gerade heute so intensiv betrieben wird. Der folgende Text ist das Ergebnis langer Überlegungen und vieler Gespräche zu diesem Thema.

Ich versuche in dem Text die folgenden Fragen zu stellen und meine (noch recht vorläufigen, mitunter thesenhaften) Antworten darzustellen:

  • Gibt es so etwas wie ein „Selbst“ überhaupt? Neuere Forschungen stellen das ernsthaft in Frage. Was gibt es stattdessen?
  • Wenn es kein „Selbst“ gibt: Was passiert, wenn wir danach suchen?
  • Was könnten die individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen sein, falls das stimmt?

 

Haben wir ein Selbst, oder sind wir nur Erinnerungen und Gewohnheiten?

Egal, wo man sich umschaut — ob in Zeitschriften, Buchläden oder in den sozialen Netzwerken — die Suche der Menschen nach sich selbst oder nach einem Sinn in ihrem Leben scheint Konjunktur zu haben.

Wollte man eine einfache Erklärung für diesen Trend finden, könnte man die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte nachzeichnen und behaupten, dass wir so ziemlich alles abgeschafft haben, was einmal größer war als wir. Ein Glaube spielt für die meisten Menschen keine bindende Rolle mehr, und die Autorität des Staates mit seinen Institutionen ist geschrumpft. Kirche und Staat werden hier nur stellvertretend für die Marginalisierung von Konventionen genannt — vieles ist heute nicht mehr so selbstverständlich wie noch vor dreißig oder vierzig Jahren. Was „man“ wann und wie im Leben zu tun hat, ob „man“ es überhaupt tun sollte, oder ob man nicht ganz anders leben möchte (und kann!), liegt heute weitgehend im Bereich individueller Entscheidungen. Kein Wunder also, so könnte man meinen, dass heutige Menschen viel eher nach einem Sinn in ihrem Leben suchen als früher.

Spätestens die humanistischen Psychologen — und vor ihnen einige Philosophen wie Sören Kierkegaard — haben eine ganze „Welt der Erkenntnis“ um Begriffe wie „Selbst“ oder „Selbstverwirklichung“ errichtet. Was den Menschen ausmache, so könnte man ganz grob zusammenfassen, sei sein Geist, und sein Geist sei das Selbst, und das Selbst entstehe aus einem Verhältnis — indem der Mensch sich zu sich selbst verhalten könne, sich in ein Verhältnis zu seinem Verhalten setzen könne, werde er sich über die Wirkungen seines Verhaltens bewusst.

Diese Bewusstwerdung passiert durch denkendes Vorwegnehmen des eigenen Verhaltens und der potentiellen Konsequenzen beim Gegenüber. Denken ist Probehandeln (Freud) — je nach Verlauf dieses Probehandelns kann sich der Mensch entscheiden. Er muss sich nicht verhalten, sondern er hat die Wahl zwischen verschiedenen Optionen. Darin liegt der Unterschied zwischen Verhalten und Handeln. Der sich so mit sich selbst verständigende Mensch sieht sich im Laufes des Lebens vielen Widersprüchen, Konflikten und sonstigen Widrigkeiten ausgesetzt — er ist also fortwährend in einem Gespräch mit sich selbst über seine Handlungsoptionen. Oftmals sind die Optionen so begrenzt oder werden Entscheidungen so ungünstig getroffen, dass Handlungen nicht zu den erwünschten Konsequenzen führen oder der Mensch sogar leidet. Weniger abstrakt ausgedrückt: Man kann in alle möglichen widersprüchlichen Situationen, unter Druck oder gar in Unterdrückung geraten — und man wird, so lange man kann, versuchen, unter den gegebenen Umständen zu handeln. Der Sinn ist dann das Ergebnis der vielen Versuche, das Selbst mit den Konsequenzen, die sich aus den Umständen und den eigenen Handlungen ergeben, in Einklang zu bringen.

Neuere Forschungen allerdings werfen die Frage auf, ob es so etwas wie ein „Selbst“ überhaupt gibt. Wer nach sich selbst suche, finde nichts (was die mitunter zu beobachtende, beinahe verzweifelte „Selbstrotation“ einiger Selbst-Sucher erklären könnte). Die überraschende Behauptung der Forscher um Nick Chater: Wir haben weder ein dauerhaftes „Selbst“, noch so etwas wie ein „Unterbewusstsein“, sondern wir „erfinden“ uns quasi immer wieder neu — und zwar auf der Grundlage von Erinnerungen und Gewohnheiten, wobei es höchst „beliebig“ (situations- und emotionsabhängig sowie getriggert durch Vorinformationen) sei, welche Erinnerungen gerade zu Rate gezogen würden und welche nicht. Das Einzige, was hingegen (relativ) konstant bleibe, seien die Gewohnheiten. Das, was wir „Selbst“ nennen, entstehe jeweils aus der aktuellen Situation.

Das steht im krassen Gegensatz zu dem, was die meisten Psychologen, Philosophen und Vertreter anderer Geisteswissenschaften denken: „Ich weiß doch, wer ich bin, und ich kann mich doch erinnern, was ich gestern gedacht habe! Ich bin doch nicht beliebig!“ Es gibt lange psychologische, pädagogische usw. Traditionen, die den Begriff „Selbst“ verwenden und im Prinzip die folgende Auffassung vertreten:

Bevor ein Mensch geboren wird, gibt es einige genetische und hormonelle Einflüsse, die seine Persönlichkeit vorprägen. Als dann bildet sich seine Persönlichkeit durch eine Interaktion zwischen Anlage- und Umweltfaktoren aus. In den ersten Lebensjahren ist die Interaktion mit den Eltern ausschlaggebend, später kommen Erzieher, Lehrer, Mitschüler und andere Interaktionspartner hinzu. Die Entwicklung eines Menschen wird als komplexer Prozess von Einflussnahme und Prägung auf der einen Seite und eigenen Handlungsversuchen, ‑erfolgen und ‑misserfolgen auf der anderen Seite verstanden. Die Handlungen des heranwachsenden Menschen werden jeweils von Reaktionen oder „Rückmeldungen“ durch sein Umfeld begleitet. Das Ergebnis sind bleibende Muster des Erlebens und Handelns, also die Persönlichkeit eines Menschen. Aus den Umfeldreaktionen bzw. „Rückmeldungen“ auf die eigenen Handlungen bildet ein Mensch mit der Zeit ein „Selbstkonzept“. Dieses Selbstkonzept enthält beispielsweise die Muster, wie der betreffende Mensch mit Angst umgeht, ob sie oder er sich selbst mag, ein offener oder eher reservierter Mensch ist, emotional stabiler oder weniger stabil ist usw. Im Grunde strebe jeder Mensch, das sagen spätestens die humanistischen Psychologen, nach der Entfaltung seiner selbst.

Seit den Sechziger, spätestens aber seit den Achtziger Jahren beobachten manche Forscher eine zunehmende Beschleunigung von Arbeits- und Lebensabläufen, eine Marginalisierung kollektiver Normen und eine Flexibilisierung vormals festerer Beziehungen (bspw. schnellere Partnerwechsel), einhergehend mit gewissen Auflösungs- oder Flexibilisierungstendenzen bei den Selbstkonzepten. Richard Sennett sprach bereits 1989 von einer „Korrosion des Charakters“ (deutsch: „Der flexible Mensch“) und David Brooks meinte vor wenigen Jahren, dass wir zunehmend zu „Lebenslaufoptimierern“ würden, die immer weniger in der Lage seien, Sinn in der demütigen Hinwendung zu anderen Menschen zu finden. Ich selbst beobachte seit einigen Jahren eine zunehmende „Selbstrotation“, also eine Suche nach dem Selbst als Selbstzweck und nicht mehr als Suche nach einem Zweck des eigenen Lebens, der sich ja mehr oder weniger nur durch die Hinwendung zu anderen Menschen oder in mit anderen Menschen geteilten Ziele finden lässt.

Insofern passen die oben genannten neueren Forschungen auf überraschende Weise zum Zeitgeist, indem sich die Welt so beschleunigt hat, dass es uns kaum mehr möglich ist, ein „Selbst“ über den Verlauf eines Lebens hinweg konsistent zu halten. Sätze wie „Du bist die Summe derjenigen Menschen, mit denen Du am meisten redest.“ passen irgendwie besser zu den heutigen Menschen, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall gewesen sein mag, als kollektive Gewohnheiten, gesellschaftliche Normen usw. noch weit stärker ausgeprägt waren. Man kann heute wählen, wer und was und wie man sein möchte, und kann, bspw. in sozialen Netzwerken, für die entsprechenden Rückmeldungen sorgen.

Schauen wir uns einmal den Prozess der Bildung von Gewohnheiten näher an:

  1. Alles beginnt mit einem Versuch. War der Versuch erfolgreich, so wird er wiederholt, Man lernt nur, wenn etwas misslingt oder zum ersten Mal gelingt.
  2. Bleibt der Versuch in ähnlichen Situationen auf Dauer erfolgreich, wird daraus ein Muster.
  3. Aus dem Muster wird mit der Zeit eine Gewohnheit.
  4. Gewohnheiten werden mit der Zeit so selbstverständlich, dass sie kaum mehr hinterfragt werden können.

Wenn sich die Ausgangssituation ändert, ist es sehr wahrscheinlich, dass dennoch versucht wird, mit dem gewohnten Muster darauf zu reagieren. Ein simples Beispiel: Eine Beziehung beginnt, die beiden Partner stellen sich aufeinander ein, es bilden sich Muster bei der Bewältigung des Alltags oder der Lösung von Problemen. Dann beginnt einer der beiden Partner, sich zu verändern (bspw. durch einen neuen Job), vielleicht ändern sich mit der Zeit Interessen oder Prioritäten, und es entstehen Konflikte in der Partnerschaft, etwa indem der sich verändernde Partner das gewachsene Rollengefüge infrage stellt. Der andere Partner wird nun wahrscheinlich versuchen, auf „neue“ Konflikte mit „alten“ Mustern zu reagieren, was ggf. zur Eskalation beiträgt.

Man kann gesellschaftliche Konventionen als kollektive Selbstverständlichkeiten oder Gewohnheiten betrachten. Jede Organisation und jede Kultur besteht aus solchen kaum hinterfragbaren Gewohnheiten. Es lassen sich nun zwei verschiedene Arten und Weisen des Umgangs mit kollektiven Gewohnheiten beobachten:

  1. Menschen, die ihre Gewohnheiten nicht hinterfragen: Diese Menschen wachsen in ein gewisses Milieu mit bestimmten Regeln hinein, funktionieren in den Regeln und Gebräuchen der jeweiligen Gemeinschaft mehr oder weniger gut, hinterfragen nichts und brechen nicht aus. Das Mittelalter mit seinen starren Ständen mag ein passendes Beispiel aus der deutschen Geschichte sein. Wenn das Umfeld und die Regeln stabil bleiben, muss ein Mensch nicht viel denken: Er tut die Dinge so, wie er sie tut, weil man sie eben so tut, und wenn es ein Problem oder eine Ausnahme gibt, werden die Regelungsinstanzen der jeweiligen Gemeinschaft (Häuptling, Ältestenrat, Geistliche oder ähnliche Funktionsträger oder Räte) angerufen, um den Sachverhalt zu klären oder Entscheidungen zu treffen.
  2. Menschen, die ihre Gewohnheiten hinterfragen: Es hat im Laufe der Geschichte immer wieder Menschen gegeben, die sich nicht mit dem jeweiligen Status quo zufrieden gegeben, sondern diesen denkend hinterfragt haben. Betrifft die Hinterfragung bspw. Prozeduren (also wie man bspw. in einem bestimmten Berufsfeld etwas tut oder nicht tut), dann könnte man diese Hinterfrager als „Innovatoren“ bezeichnen. Hinterfragen Menschen jedoch die Grundregeln oder die Verfasstheit eines Gemeinwesens, dann sind sie wohl am Ehesten als „Rebellen“ zu bezeichnen. Beginnen letztere, ihre Hinterfragung in Worte zu fassen und finden diese Worte bei anderen Menschen Anklang, kann dies zu individuellen oder kollektiven Handlungen führen, die den Status quo nicht nur denkend, sondern auch handelnd infrage stellen. Das führt zu Konflikten. Die Geschichte der Menschheit ist voll von Beispielen für solche Konflikte.

 

Es ist immer nur heute

Angenommen, an den soeben dargestellten Zweifeln an der Existenz eines „Selbst“ ist etwas dran, dann „verwirklichen“ wir uns nicht im Sinne der Entfaltung von etwas, das bereits in uns angelegt ist, sondern wir „aktualisieren“ uns nur, indem wir je nach Situationserfordernis, Gefühlslage und bereits aktivierten Gedächtnisinhalten Erinnerungen abrufen und kombinieren. Bestimmte, häufig verwendete Erinnerungen spielen dabei vielleicht eine dominantere Rolle als andere, seltener aktivierte Erinnerungen. Dieses stete „Wiedererkennen“ vermittelt uns ein Gefühl von Kontinuität und Identität. Da jeder Mensch seine eigenen Erinnerungen hat, hat er auch entsprechend das Gefühl, ein einzigartiges Individuum zu sein. Aber, so die Forscher um Nick Chater, der Geist sei flach, und die „Tiefe“ des Selbst sei eine Illusion.

Im Prinzip ist, salopp formuliert, immer nur heute. Wenn man sich nun jene „alten“ Zeiten mit kollektiv verbindlicheren Konventionen vorstellt, dann leuchtet ein, dass Menschen in jenen Zeiten eine gewissermaßen „festere“, kontinuierlichere und weniger veränderliche Identität hatten als in unseren Zeiten. Die heutigen identitätsbildenden Prozesse sind dichter — wir interagieren mehr in kürzerer Zeit, wir verändern uns schneller, wir haben mehr Optionen, und wir verändern uns nicht zuletzt auch deshalb, „weil wir es können“, sprich, weil wir die Möglichkeit dazu haben und uns kollektive Regeln, Verbote und Tabus kaum mehr hindern. Bin ich mit einem Arbeitgeber unzufrieden oder in einer Partnerschaft unglücklich, kann ich gehen — zumindest mit weit geringeren „Kosten“ und Konsequenzen als früher.

Die Gewohnheiten sind also weniger verbindlich und „kurzfristiger“ als noch vor wenigen Jahrzehnten. Gleichzeitig beschleunigt sich das Leben, die Optionen und die potentiellen Interaktions- oder Identifikationspartner werden mehr. Das hat zur Folge, dass ich mich an „gefühlt mehr“ (faktisch: unterschiedlichere, weniger gleichartige Dinge) erinnern kann. Ich kann durch die Wahl derer, mit denen ich spreche und die mich beeinflussen, bestimmen, wer ich bin. Da aber die Interaktionspartner und Vorbilder — „Influencer“ ? — mehr werden und häufiger wechseln, werde ich „flexibler“ — zugespitzt formuliert: je nach Kontext und Erinnerung bin ich mal diese oder jene Version von mir.

Es ist also nicht nur „immer nur heute“, weil ich mich in jeder Situation auf der Grundlage meiner Gewohnheiten aus meinen Erinnerungen neu zusammensetze. Sondern es wird immer mehr „immer nur heute“, weil ich mich immer öfter — mit immer reichhaltigeren „Vorlagen“ und Optionen ausgestattet — auf der Grundlage einer immer geringeren „Gewohnheitsintensität“ aus einer Auswahl immer vielfältigerer Erinnerungen zusammensetzen kann.

Dann lasse ich immer weniger „größer als ich“ sein, und mein „Ich“ wird immer mehr zum Dreh- und Angelpunkt meiner Betrachtungen — was die immer intensivere Suche vieler Menschen nach sich selbst erklärt.

Da dieses „Selbst“ aber nicht in dem Sinne „existiert“, sondern es immer wieder neu zusammengesetzt wird, verliere ich mit zunehmender Optionen- und Einflussvielfalt durch wachsende Interaktionsdichte und Interaktionspartnerfrequenz (Jobwechsel, Partnerwechsel, Interaktionen in sozialen Medien usw.) bei gleichzeitig zurückgehender Anzahl und „Festigkeit“ von Gewohnheiten das immer mehr aus dem Blick, was ich mein „Selbst“ nenne.

Durch die dann ggf. einsetzende intensivere Suche nach dem Selbst verstärke ich noch einmal die Einfluss-Seite (gehe auf Reisen, buche einen Coach, lese Bücher, chatte auf sozialen Plattformen über solche Fragen) und entbinde mich noch weiter von Gewohnheiten (löse mich aus Kontexten, die mich zu sehr einschränken, ziehe um, suche mir einen neuen Job, trenne mich, suche intensiver und schneller wechselnd nach neuen Partnern usw.).

Das kann dann leicht zu einem Teufelskreis werden, an dessen Ende man vor lauter Verzweiflung und Hilflosigkeit esoterischen Heilsversprechen aufsitzt.

Wenn man annimmt, dass diese Gedanken nicht gänzlich abwegig sind, dann stellt sich die Frage nach den Konsequenzen.

 

Die Spaltung der Welt?

Auf einer gesellschaftlichen Ebene könnte das Gesagte bedeuten, dass wir es mit einer regelrechten „Spaltung der Welt“ zu tun haben. Während die einen noch über festere Gewohnheiten verfügen und deshalb weniger „fluide“ Ich-Aktualisierungen bilden, ändern die anderen ihre Sichtweisen auf sich selbst zunehmend schneller und flexibler, und zwar je nach Einflussstärke bestimmter (neuer) Interaktionspartner. Während jene auf schnelle Veränderungen gewohnt langsam reagieren, nehmen diese neue Optionen wahr und passen sich an — wechseln schneller den Job, die Partnerschaft, die Lebensziele, die Freundeskreise. Während jene auf die zunehmende Vernetzung der Welt, die Vervielfältigung der Optionen und die Beschleunigung des Lebens vielleicht mit Skepsis reagieren, sind die beschriebenen Entwicklungen für diese gleichsam das Wasser, in dem sie schwimmen — und das durch ihre Handlungen immer „flüssiger“ wird. Aus diesen Entwicklungen sind bereits, so will ich vermuten, zwei grundlegend verschiedene Weltbilder geworden — mit gänzlich unterschiedlichen Handlungsmustern. Freilich beschreibe ich hier Extremfälle, und die Realität lässt sich wahrscheinlich anhand eines Spektrums zwischen den beschriebenen Polen darstellen.

Auf einer individuellen Ebene könnte das Gesagte bedeuten, dass das, was wir unser Selbst nennen, immer fragiler und anfälliger für neue Einflüsse wird. Wir können uns nicht nur nicht finden, sondern die Suche bewirkt zudem das Gegenteil. Wollte man dem etwas entgegensetzen, würde man vielleicht bei Marc Aurel fündig, der in seinen „Selbstbetrachtungen“ vorgeschlagen hat, dass das Selbst am Ehesten aus Prinzipien bestehen sollte. Mit Gewohnheiten und Prinzipien setzt man der Variabilität der ständigen Aktualisierung etwas entgegen.

 

Führt Selbst-Suche in die Verzweiflung?

Vielleicht ist es eine Ironie unserer Zeit, dass wir die Marginalisierung von Konventionen als Befreiung empfinden. Wie bitte? Die Konventionen wurden doch nicht ohne Grund reduziert, denn ein größerer Teil der früher rigiden Normen und Tabus haben ja zu leidvollen Konsequenzen geführt. Wie viele von häuslicher Gewalt betroffene Frauen konnten sich nicht trennen, weil sie materielle Not oder soziale Ächtung erfahren hätten — oder schlicht, weil der Pfarrer gesagt hat, dass man das nicht macht, dass man nicht trennt, was Gott zusammengefügt hat? Das ist nur ein Beispiel. Die heute geringere Diskriminierung bestimmter Gruppen oder die weitgehend vorhandene Freiheit von Zwang mögen zu zahlreichen weiteren Beispielen führen. Aber, und darin liegt meines Erachtens eben eine gewisse Ironie, die Marginalisierung von Konventionen verursacht zusammen mit der heute zu beobachtenden Beschleunigung des Lebens, der Verdichtung von Interaktionen und der steigenden Vielfalt von Optionen „offenere“ oder „flexiblere“ Ich-Aktualisierungen, die es den Betroffenen umso schwerer machen zu sagen, wer sie selbst sind oder was sie wollen. Die Folge sind häufigere „Lebensentscheidungen“, und im Extremfall mag das in die Unfähigkeit münden, sich länger zu binden. Wenn nichts mehr „größer ist als wir“, wird das Lustprinzip zum letzten verbleibenden Maßstab des Handelns, was in Verbindung mit den beschriebenen Entwicklungen (Beschleunigung, Verdichtung, Optionenvielfalt) zu einer Perforation dessen führt, was wir bisher als „Selbst“ bezeichnet haben. Halten diese Menschen aber an dem Bild eines „Selbst“ fest, führt das bei zunehmender Aktualisierungsfrequenz oder „Ich-Vielfalt“ zu „Selbst-Entfremdung“ und damit zur Suche nach dem Selbst und/oder zu Verzweiflung.

 

Was tun wir, wenn es kein Selbst gibt?

Eine Möglichkeit wäre, der Realität ins Gesicht zu blicken und anzuerkennen, dass es so etwas wie ein festes Selbst nicht gibt — und die Illusion eines Selbst immer weniger herstellbar und haltbar ist. Das hat Folgen für die Vorstellungen vom Leben — feste Arbeitsverhältnisse über Jahrzehnte hinweg, Partnerschaften, die ein Leben lang halten, all das würde dann konsequenterweise auf den Prüfstand gehören. Aber so realistisch oder pragmatisch zu sein, tut weh. Nicht umsonst werden mit sinkender Erfolgswahrscheinlichkeit die entsprechenden Vorstellungen und Rituale „symbolträchtiger“ oder auch „schwülstiger“. Man betrachte nur manche Hochzeiten, die eher perfekten Inszenierungen ähneln als einer Feier unter ganz durchschnittlichen Menschen.

Eine realistische Anerkenntnis der Entwicklungen würde uns zu der Frage führen, was uns in Zukunft zusammenhalten kann und welche Gewohnheiten wir uns schaffen wollen, die hilfreich sind, unser Miteinander zu gestalten. Der Häuptling, der Ältestenrat, der Pfarrer usw. haben jedenfalls ausgedient. Waren es früher Autoritäten, die die Konventionen vertreten haben, so werden es wahrscheinlich in Zukunft Prozesse sein, die uns jedes Mal spezifisch aushandeln lassen, was wie gemacht werden soll.

Wie seinerzeit bei der Entwicklung der Vorläufer unserer heutigen Gerichtsverfahren: Erst galt das Recht des Stärkeren, dann entstand das Häuptlingstum, und Häuptlinge haben Konflikte quasi stellvertretend gelöst, und daraus entwickelte sich langsam eine Prozedur, in der vom Herrscher beauftragte Personen nachvollziehbar darstellen sollten, wie der Konflikt liegt, um dann ein Urteil zu sprechen. Natürlich gab es auch hier alle Fehlentwicklungen und Düsternisse, zu denen Menschen fähig sind. Aber am Ende einer langen Entwicklung standen Prozeduren, die eine einigermaßen nachvollziehbare (und damit kollektiv geteilte und ggf. gerechte) Erarbeitung eines Urteils zuließen.

 

Keine Rolle rückwärts und auch nicht „anything goes“ — was dann?

Das mag abstrakt klingen, aber so ist es, wenn etwas noch nicht da ist, sich aber in Vorzeichen langsam am Horizont des Geschehens zeigt: Es lässt sich noch nicht allzu gut in Worte fassen, aber unsere Auffassung von den Dingen ändert sich bereits, wenn wir feststellen, dass überkommene Auffassungen neuen Auffassungen Platz machen, obwohl noch keiner die neuen Auffassungen richtig beschreiben kann.

Es wird wahrscheinlich keine „Rolle rückwärts“ in alte Zeiten geben — auch wenn viele die „gute alte Zeit“ mit ihren festeren Konventionen und Autoritäten vermissen. Es wird auch nicht keine Autoritäten geben. Wie Autoritäten entstehen, wird nur neu verhandelt. Auch Bindung wird neu verhandelt, indem die Rollenbilder, mit denen eine Ehe verbunden ist, nicht mehr selbstverständlich sind bzw. die Ehe und die mit ihr verbundenen gegenseitigen Erwartungen insgesamt nicht mehr selbstverständlich sind.

Identität wird flüssiger, weniger greifbar. Das heißt mitnichten, dass etwa alles einem radikalen „Dekonstruktivismus“ unterworfen wird. „Anything goes“ bleibt meines Erachtens eine rein akademische Übung. Freilich wird Identität hergestellt, nur eben weniger über kollektive Konventionen und „alte“ Gewohnheiten, sondern „flüssiger“ und „flexibler“. Derzeit lässt sich eine gewisse „Gleichzeitigkeit aller Zeiten“ beobachten, indem aktuelle Identitäten mit allen möglichen historisierenden Bildern (bspw. Vintage, lange Bärte, ein Mode-Sammelsurium aus unterschiedlichsten Jahrzehnten) aufgeladen werden, und die global funktionierenden sozialen Plattformen sorgen für eine gewisse globale Nivellierung oder Synchronisierung von Vorstellungen und Leitbildern. Zwar zeigt sich an vielen Stellen eine konservative Rückbesinnung, was in westlichen Ländern nicht zuletzt an den Wahlergebnissen sichtbar wird, aber die Frage der Zukunft wird nicht lauten, „wohin zurück“ wir wollen, sondern was wir mitnehmen wollen (also vor allem: welche Gewohnheiten wir behalten wollen).

 

Dass ich Optionen habe, sorgt für mehr Optionen

Eine bisher nur zu erahnende Konsequenz lässt sich im Bereich der Wirkung von Medien auf die Selbst-Aktualisierung von Menschen vermuten. Die oben beschriebene Verdichtung von Interaktionen und die Vervielfältigung von Optionen hat ja vor allem auch mit Plattformen im Internet zu tun. Wenn ich keine Partnerin oder keinen Partner habe, kann ich mir (relativ) leicht Zugang zu entsprechenden Optionen verschaffen — was im Erfolgsfall die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ich mich im Bedarfsfall wieder dieser Möglichkeiten bediene — was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass ich den Bedarfsfall ggf. eher eintreten lasse. Manche Trennungen finden statt, so will ich vermuten, weil es neue Optionen gibt. (Was das für die „Haltbarkeit“ von Beziehungen bedeutet und welche „Verwerfungen“ das hinsichtlich der für gemeinsame Kinder notwendigen Verantwortung und Stabilität verursacht, stelle ich in meinem nächsten Buch „Liebe ist eine Entscheidung“ dar, das im März 2020 erscheint.)

 

Elektronische „Freunde“ und ihr Einfluss auf mein Gehirn

Die „Flexibilisierung“ der Optionen bei der Partnerwahl ist jedoch nur ein Beispiel. Die Wirkungen reichen, so will ich meinen, viel tiefer. Bereits in den Neunziger Jahren haben Forscher beobachtet, dass die Anzahl enger Freunde von Jahrgang zu Jahrgang geringer wird, die Zufriedenheit mit den Freundschaften aber zunimmt. Erklärt haben die Forscher dieses Phänomen mit der Wirkung von Medien, indem Serienhelden zunehmend die innerpsychische Funktion von Freunden einnehmen bzw. für die menschliche Psyche äquivalent zu realen Freunden sind. Dann erinnere ich mich an das, was mein „Freund“, der Serienheld, gesagt hat anstatt an das, was mein realer Freund Matthias gesagt hat — meinem Gehirn ist das offensichtlich ganz egal. Problematisch wird es nur, wenn ich tatsächlich einmal Hilfe brauche — der Serienheld könnte dann nicht helfen, Matthias schon. Indem nun die Interaktionsmöglichkeiten und die Interaktionsdichte und ‑geschwindigkeit im Netz immer mehr zunehmen, setzen Menschen ihre Gehirne zunehmend medial vermittelten Einflüssen aus. Das bedeutet, die dort agierenden oder idealisiert dargestellten Personen (auf einem Instagram-Profil kann das reale Leben abgebildet werden, muss es aber nicht — und wird es von den meisten auch nicht) einen — im Vergleich zu realen Personen vielleicht geringeren, aber nicht zu vernachlässigenden — Einfluss auf das haben, woran sich eine Person bei ihrer nächsten Selbst-Aktualisierung erinnert wird. Das sorgt in gewisser Weise für eine globale Angleichung von Vorstellungen und Interessen, hat aber auch noch eine andere Dimension, die uns im Alltag wenig bewusst wird: Die Algorithmen scannen das Verhalten der Nutzer, bilden es ab und sorgen so für eine „nutzerorientierte“ Informationsauswahl. Aber durch die großen Datenmengen lassen sich auch weniger bewusste Bedürfnisse und Nutzereigenschaften erkennen, die dann wiederum eine gewisse „Nutzerführung“ ermöglichen. Ein Algorithmus „weiß“ nichts, aber er regelt, was ich als potentielles Wissen vorgesetzt bekomme. Er bildet also nicht nur Verhalten und Interessen ab, um zu liefern (bspw. die richtige Buchempfehlung), sondern er kann auch „vorgeben“, Interessen prägen und damit Identität beeinflussen.

Jörg Heidig (08.12.2019)